Systemisches Konsensieren

Um eine Entscheidung zu treffen, greifen Teams häufig zu einer Abstimmung. Ein Mehrheitsentscheid ist aber nicht immer der beste Weg. Das Systemische Konsensieren ist ein alternatives Tool zur Entscheidungsfindung, das nicht nur die Zustimmung der Beteiligten, sondern auch die Widerstände misst, die eine mögliche Lösung bei den abstimmenden Personen auslöst.

Ursprünge

Schon in den 1970er Jahren begannen sich Siegfried Schrotta und Erich Visotschnig mit machtfreien Entscheidungsverfahren auseinanderzusetzen. Sie stellten fest, dass demokratische Mehrheitsentscheide häufig nicht der richtige Weg sind, um zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. 2002 schließlich erarbeiteten sie ihren konkreten Alternativvorschlag: das Systemische Konsensieren. Das 2005 erschienene Buch „Das SK-Prinzip – Wie man Konflikte ohne Machtkämpfe löst“ bot seither die Grundlage für die weitere Ausarbeitung des Konzeptes.

Dieser Artikel befasst sich mit der zu Grunde liegenden Idee und umreißt grob einige Kapitel des inzwischen umfangreichen Konzepts des systemischen Konsensierens.

Mehrheitsentscheide vs. Konsensieren

Warum sind Mehrheitsentscheide etwas anderes als Konsensieren? Ein simples Beispiel von 4 Freunden kann den Unterschied verdeutlichen:
Alex, Christian, Mark und Andrea möchten gemeinsam essen gehen. Jede:r schlägt ein anderes Restaurant vor, sodass am Ende Folgendes zur Auswahl steht: Italienisch, griechisch, asiatisch und ein vegetarisches Restaurant.

Die Freunde werden sich nicht sofort einig und kommen zu dem Schluss, dass sie wohl abstimmen müssen. Jede:r der Freunde stimmt nun für den eigenen Vorschlag, nur Christian ist besonders hungrig und möchte endlich zu einer Entscheidung kommen. Er entscheidet sich, statt seines eigenen Vorschlags zum Italiener zu gehen, für das griechische Restaurant.
Wir haben also einen Gewinner: Das griechische Restaurant führt nun mit 2 Stimmen (Alex und Christian) vor den vegetarischen (Mark) und asiatischen (Andrea) Restaurants mit jeweils einer Stimme. Der Italiener geht mit 0 Stimmen aus. Es steht 2:1:1:0 für das griechische Restaurant. Dieses Ergebnis ist durch einen klassischen Mehrheitsentscheid zustande gekommen und die Entscheidung sollte daher nun alle Beteiligten zufrieden stellen. Oder doch nicht?
Mark ist Vegetarier und sorgt sich darum, dass die Auswahl an vegetarischen Gerichten beim Griechen zu klein sein könnte. Andrea hat Probleme mit ihrem Fuß und das griechische Restaurant ist am weitesten entfernt. Sogar Christian, der das Zünglein an der Waage war, ist selbst nicht vollends von seiner Entscheidung überzeugt. Aber eine Entscheidung ist immerhin besser als keine Entscheidung. Alex ist auf jeden Fall sehr zufrieden: Sein Vorschlag wurde gewählt.

Anhand dieses Beispiels erkennen wir: Selbst eine simple Fragestellung und eine begrenzte Anzahl an Lösungen für ein Problem sind bereits zu komplex, um ihr mit einer Mehrheitsabstimmung gerecht zu werden. Es gibt verschiedenartige Beweggründe, um für oder gegen eine Lösung abzustimmen. Wir sehen: Sogar bei der Auswahl eines Restaurant können mehr Gründe zum Tragen kommen, als der persönliche Geschmack. Und selbst jemand, der für eine Variante stimmt, muss nicht vollumfänglich überzeugt von dieser Lösung sein.

Das systemische Konsensieren setzt an dieser Unvollständigkeit an und bietet einen Alternativvorschlag. Anders als beim Mehrheitsentscheid soll nicht nur das Für, sondern auch das Wider seinen Raum finden.

Konsensieren durch Widerstandsmessungen

Die gefühlten Widerstände gegen einen Lösungsvorschlag sollen also von Anfang an in die Abstimmung mit einbezogen werden. Aber wie? Im systemischen Konsensieren wird eine Skala von 0-10 genutzt, um Zu- und Abneigung für einen Lösungsvorschlag zum Ausdruck zu bringen.

Bin ich von einer Lösung vollends überzeugt, bewerte ich sie mit einer 0 (keinerlei Einwände). Bin ich absolut dagegen und kann der Lösung nichts abgewinnen, versehe ich sie mit einer 10. Alles im Mittelfeld ist eine subjektive Bewertung und bedarf einer kurzen innerlichen Analyse und vor allem Ehrlichkeit mit mir selber.

Wenn wir unser Beispiel auf eine konsensierte Lösung aufbauen, befragen wir unsere vier Freunde nach ihren Widerständen gegen ein Restaurant. Die Ergebnisse könnten wie folgt aussehen:

Ein Beispiel für Systemisches Konsensieren als Tabelle

Wie ist dieses Ergebnis zu interpretieren? Die niedrigste Zahl verrät uns das Ergebnis mit dem geringsten Widerstand. Zu unserer Überraschung ist es nicht der Grieche, der ursprünglich den Mehrheitsentscheid gewonnen hat, sondern das vegetarische Restaurant.

Jede:r hat den eigenen Vorschlag mit einer 0 versehen und darüber hinaus überlegt, wie viel Widerstand die anderen Lösungen bei ihm:ihr auslösen. Deutlich wird hier, dass keiner der vier Freude je eine große Abneigung gegenüber dem vegetarischen Restaurant hatte. Durch das Systemische Konsensieren ist diese Tatsache nun schwarz auf weiß ersichtlich.
Das vegetarische Restaurant ist die qualitativ bessere Lösung für die Freundesgruppe, da mit dieser Lösung alle einigermaßen zufrieden gestellt sind.

Durch die Ergebnisse beim Konsensieren wird auch klar, wie das griechische Restaurant den Mehrheitsentscheid gewinnen konnte. Christian hat neben seinem eigenen Vorschlag italienisch essen zu gehen, den geringsten Widerstand gegen das griechische Restaurant verspürt. Er hat daher taktiert, um so zu einer für ihn befriedigenden Lösung zu kommen. Die Bedenken, Sorgen und Kritik von Mark und Andrea wurden hingegen nicht berücksichtigt.

Dieses Beispiel zeigt uns bereits die Grenzen von Mehrheitsentscheiden und die Vorteile von Konsensieren auf. Wird das Problem jetzt komplexer und die Lösungen vielfältiger, punktet das Systemische Konsensieren trotzdem.

Weitere Anwendungsgebiete

Zugegebenermaßen ist das Beispiel der vier Freunde ein simples. Im Gespräch wäre vielleicht noch deutlich geworden, welche Sorgen und Bedenken Mark und Andrea hegen und eventuell wäre den vieren in einem Gespräch noch klar geworden, welches Restaurant für alle das Beste wäre.

Stellen wir uns aber vor, dass wir statt 4 Personen nun 30 Stimmberechtigte haben und statt der 4 Lösungen haben wir jetzt 10 verschiedene Vorschläge.
10 Personen von 30 stimmen in einem Mehrheitsentscheid für Lösung A, die anderen 20 Personen teilen sich unterschiedlich auf die verbleibenden 9 Lösungen (B-J) auf.
Das Voting zeigt deutlich: Lösung A hat 33% der Stimmen gewonnen und liegt damit deutlich vor den anderen Lösungen. Klarer Fall; das muss die beste Lösung sein, da wir die meisten Leute damit zufriedenstellen!
… Das muss natürlich nicht stimmen. Die Widerstandsmessung kann diese Tatsache aufdecken. Durch Systemisches Konsensieren kann hier beispielsweise visualisiert werden: 20 der 30 Stimmberechtigten (also 66%) verspüren gegen Lösung A einen sehr großen Widerstand - lehnen die Lösung A also klar ab.
Natürlich können wir keine Lösung umsetzen, mit der zwei Drittel aller Betroffenen/Beteiligten nun überhaupt nicht einverstanden sind. Die Widerstandsmessung hat uns gezeigt: Es muss eine andere Lösung her.


Kurze Zusammenfassung - Was zeigen uns diese Beispiele konkret?

  • Ein Mehrheitsentscheid wird der Komplexität eines Problems nicht gerecht

  • Mit nur einer Stimme habe ich einen “One-Shot” und die Chance auf eine weitere Lösung, mit der ich ebenso gut leben könnte (2. Wahl), geht verloren

  • Der Widerstand gegen eine Lösung kann größer sein als die Zustimmung

  • Taktieren ist bei Systemischem Konsensieren kaum möglich; ich muss ehrlich bewerten, um zu einem Ergebnis zu kommen, welches das Beste für die Gruppe ist.

Eine Passivlösung als Baseline

Ein weiteres Element, das ich gerne beleuchten würde, ist die Passivlösung. Haben wir verschiedene Vorschläge, über die abgestimmt werden soll, können wir als Baseline eine Passivlösung hinzufügen. Diese Passivlösung kann beispielsweise heißen “Wir machen einfach weiter wie bisher” oder “wir machen gar nichts”. Die Passivlösung wird wie ein normaler Vorschlag gewertet und auch für ihn wird abgestimmt und die Widerstände gemessen.

Trifft die Passivlösung in der Abstimmung auf 20% Widerstand, ist damit ausgeschlossen, dass eine Lösung, deren Widerstand höher als 20% ist, durchgeführt werden darf. Anders gesagt: Finden mehr Leute die Lösung XY schlechter, als einfach gar nicht zu handeln, kann die Lösung XY nicht durchgeführt werden. Die Passivlösung ist damit eine Zumutbarkeitsgrenze für Lösungen.
Wenn die Passivlösung im Gegenzug auf sehr wenig Widerstand und gleichzeitig viel Zuspruch stößt, kann uns das einen Hinweis darauf geben, dass die Bereitschaft überhaupt eine Lösung zu finden oder die Notwendigkeit zu handeln nicht sonderlich hoch ist.
Die Passivlösung dient daher als Gesprächsgrundlage und kann uns darauf stoßen, dass wir vielleicht noch weitere Lösungsvorschläge brauchen.

Umgang mit konsensierten Lösungen

Natürlich bedeutet eine konsensierte Lösung nicht sofort das Ende aller Diskussionen und ist unanfechtbar. Es gibt ein paar Fragen, die wir grundsätzlich stellen sollten:

  • Sind wir überhaupt befugt eine Entscheidung zu treffen?

  • Ist die Entscheidung, die wir hier treffen verbindlich?

  • Wie gehen wir mit dem Ergebnis um? (Brauchen wir eine weitere Konsensierung?)

  • Ist der konsensierte Vorschlag ausführbar?

Die Methode lädt dazu ein, die Ergebnisse aus der Konsensierung zu diskutieren und interpretieren. Es gibt sehr viel Widerstand - wieso ist das so? Wo liegen Bedürfnisse/ Sorgen/ Wünsche der Betroffenen? Wie kann man diese besser berücksichtigen? Es wurden mehrere 10en vergeben. Woran liegt das? Wie kann man da entgegen kommen? Man darf nicht vergessen: Eine 10 stellt kein Vetorecht dar, aber gibt trotzdem Aufschluss darüber, dass wir wohl noch nicht die zufriedenstellendste Lösung gefunden haben.

In der Arbeit mit Teams können diese gesammelten Informationen gold wert sein. Gerade im Rahmen einer Retrospektive sehe ich sehr viele Chancen für den Einsatz dieses Entscheidungsfindungstools.


  • Alex vor einer Gruppe

    Dein Team braucht mehr solcher Impulse?

    In unseren Team-Coachings begleiten wir euch in euren Teams und setzen Impulse wie das systemische Konsensieren, um eure Zusammenarbeit auf das nächste Level zu bringen!

    Mehr zu Team-Coaching